Mechthild Overbeck-Neuhaus
Himmel aber auch!
Die Bank war frei, unbesetzt. Na, bitte. Weit entfernt von der Innenstadt, auf dem Weg, der durch Felder führte, wo es wieder Ferne zu sehen gab und die Füße auf Erdboden gehen konnten, da war Leo seit kurzem abends anzutreffen.
Er nahm den Rucksack ab. Die Flasche Wasser und ein Käsebrötchen hatte er im Supermarkt gekauft. Schwermütig setzte er sich auf die hölzerne Bank. Der kühle Wind veranlasste ihn, den Reißverschluss seiner Jacke hochzuziehen. Leo setzte auch die Mütze auf.
Es war schon dunkel, der Himmel war klar, eigentlich ein perfekter Abend. Er legte den Kopf leicht in den Nacken und suchte den Himmel ab. Die Milchstraße mit ihrem verschwenderischen Licht war nur noch als schwaches Band sichtbar. Die nächtliche Himmelskuppel, die sich langsam drehte, mit den unveränderlichen Mustern spannte sich über ihn und diesen Ausschnitt der Welt. In der Stadt konnte man so etwas nicht sehen. In der Stadt konnte man vielleicht den Mond süchtig betrachten, wenn man mal zwischen den Häusern stehen blieb. Kleiner Wagen, großer Wagen, die waren leicht zu finden. Nach denen hatte er schon als Kind gesucht. Und wie damals sah er staunend in den Nachthimmel, wie damals war er manchmal gern mit sich allein. Die Erinnerungen an die Kindheit wohnten schon lange in einer dunklen Grotte und zeigten sich nur selten. Doch nun tauchte das Bild seines Vaters auf, der ihm mit dem Zeigefinger die Sterne wies. Ein wenig krumm und mit großem Nagelmond. Dieser Zeigefinger war es auch gewesen, der ihm Jahre später den Weg hinaus zur Tür gewiesen hatte mit den Worten: „Geh, ich schäme mich, dass du mein Sohn bist.“ Dabei hatten sie nach dem Tod der Mutter zunächst gut zueinandergefunden.
Leo hielt Ausschau nach Sirius, dem hellsten Stern am Nachthimmel. Seine Gedanken wanderten zurück in die Zeit, als er mit Farid oft in das tiefe Blau des Himmels geschaut hatte. Farid, der Einzigartige, so die Bedeutung seines Namens, Farid, der sanfte Poet, Farid, ein Mensch mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Nie hatte er Farid etwas versprochen, wollte ihm keine Sterne vom Himmel holen. Doch in dem Moment, als Leo ihm erklärte, dass es sich bei Sirius um einen echten Doppelstern handelt, hielten sie einander fest in ihrer Umarmung. Zwei Sterne, nah beieinander stehend, als physische Einheit einen gemeinsamen Schwerpunkt umkreisend, sorglos, friedlich, frei.
Ein ganzes Jahr war inzwischen vergangen. Konnte es weitergehen? Farids Familie verfluchte ihn. Leo ertrug die lautstarken Sprüche seiner Arbeitskollegen, die Hasskommentare und Gewaltandrohungen, für die sich im Internet kaum jemand schämte, und die populistischen Sprüche von Politikern. Bei Farid durchdrangen sie die Haut bis in die Seele.
Sein Handy brummte, Farid: Are you busy? Er steckte es zurück in die Tasche und versuchte, sich wieder auf das Himmelsgewölbe zu konzentrieren, auf den himmlischen Kompass. Hatte er die Orientierung verloren? Polarstern hier, Kreuz des Südens dort. Wieder brummte das Handy. Farid, wahrscheinlich mit Hilfe von Google Übersetzer:
Wo deine Sterne sind, war mein Himmel leer.
Nun spielen dort 365 Violinen
ein Lied von Liebe und Hoffnung.
Leo, come on, let's celebrate!
Leos schaute in den Nachthimmel und wusste wieder, wo es lang ging und mit wem.





